Lesen Sie hier ein aktuelles Interview mit Claus Peter Witt, dem Regisseur der "Gentlemen"
 

Wie authentisch ist der deutsche TV-Dreiteiler „Die Gentlemen bitten zur Kasse“?

Der wunderbare „Straßenfeger“ des NDR erzielte bei seiner Erstausstrahlung im Februar 1966 mit die höchsten Einschaltquoten der deutschen TV-Geschichte. Horst Tappert, Günter Neutze, Hans Cossy, Siegfried Lowitz und viele andere bekannte Darsteller jener Zeit liefen zur Hochform auf. Auch die eingängige Filmmusik von Heinz Funk und viele kleine Innovationen trugen zum Erfolg bei, wie etwa der feinsinnige und ironische Kommentar des Sprechers (Hans-Günter Martens) oder die Idee, den Abspann nach Teil 3 mehrfach anzuhalten und noch weiter zu erzählen. Die Verfilmung ist heute auch international durchaus bekannt, wurde aber meines Wissens nie fremdsprachig synchronisiert. Dies entspricht der damaligen, nicht marktorientierten Haltung des deutschen Fernsehens: Auch "Dinner for One" wird weltweit nur in der Fassung des Schweizer Fernsehens gezeigt.

Auch mich hat dieser Dreiteiler inspiriert, und immer wieder erhalte ich E-Mails von Besuchern von "Trainrobbery.de", denen es genauso geht.

Auf die auf die Authentizität dieser ersten Verfilmung des Postraubes weltweit überhaupt (!) ist natürlich nicht immer Verlass. Viele Fakten waren damals einfach noch nicht bekannt. Andererseits brachte der deutsche Dreiteiler mit der darin erstmals dargestellten Beteiligung der Posträber am Flughafen-Überfall 1962 auch eine wirkliche Neuheit zutage, die der englischen Presse bis dahin gar nicht bekannt gewesen war.

Ansonsten mischte Drehbuchautor Henry Kolarz (verstorben 2001) allerdings aus heute manchmal nicht mehr ganz nachvollziehbaren Gründen Wahrheit und Erfindung. Auffälligste Abweichung ist, dass die Namen der Posträuber, obwohl weitgehend bekannt, geändert wurden. In seinen Erinnerungen ("Derrick und ich") schreibt Horst Tappert dazu:

"..aus rechtlichen Gründen mussten..im Fernsehspiel alle Namen geändert werden. Das sorgte beim Drehen oft für Verwirrung, weil jeder von uns die Originalnamen besser kannte als die im Drehbuch - ein Zeichen dafür, wie stark man sich mit seiner Figur identifiziert. Donegan/Reynolds war mir sofort vertraut. Dieser Stratege, der alles im Kopf und im Blick hatte, seine Leute in Krisensituationen unter seine Fittiche nehmen konnte, der menschlich war und zugkeich ein bisschen snobistisch und mit trockenem englischen Humor - das war mein Fall, besonders bei meiner notorischen Schwäche für alles englische. Nie wieder bin ich mir schon im ersten Augenblick einer Rolle so sicher gewesen..."

Wenig mit juristischen Erfordernissen, mehr mit dem größeren Effekt hat es wohl auch zu tun, dass die Biografien mancher Posträuber „bunter“ gestaltet wurden. So war Bruce Reynolds kein Weltkriegs-Major gewesen. Reynolds (Jahrgang 1931) befand sich während des Kriegs in einem Kinderlandheim. Auch der Perrückensalon für Richter von Buster Edwards alias „Patrick Kinsey“ (Hans Cossy) hat nie existiert. Ronald Biggs ("Arthur Finnegan"), der tatsächlich am Tag des Überfalls Geburtstag hatte, wird als Unsympath dargestellt, der sich mit dem "Major" anlegte - tatsächlich war Biggs zeitlebens ein enger Freund und großer Bewunderer von Reynolds, den er schon 1949 im Gefängnis kennngelernt hatte. Fälschlich geht Kolarz davon aus, dass William Boal alias "Alfred Frost" tatsächlich beim Raub dabei war, was seinerzeit schon als sehr zweifelhaft galt. Die drei Unbekannten Täter werden dagegen ignoriert, was aber dem damaligen Wissensstand entsprach. Die dargestellten Konflikte zwischen Reynolds und Goody ("Archibald Arrow") vor und nach dem Raub dürfte es so nicht gegeben haben. Die Ausbruchsaktionen von Biggs und Wilson wurden als geniales Werk von Reynolds und Edwards dargestellt, die aber hatten in Wirklichkeit ihre Finger nicht im Spiel.

Auch viele Ortsnamen (z.B. "Chilton" statt Cheddington, "Woodlands Farm" statt Leatherslade Farm) wurden geändert, obwohl sie schon durch die Weltpresse gegangen waren. Kolarz’ später als Buch erschienener „Tatsachenroman“ enthielt zumindest die richtigen Namen und Orte, aber auch viel erfundenes.

Wer die Namen der Personen im Film mit den echten Tätern vergleichen möchte, dem hilft die folgende Liste. Ich habe sie erstellt, bevor ich in den Besitz des Buches von Henry Kolarz kam, allerdings ergaben sich keine Änderungen daraus. Auch die ARD hat bei der Neuveröffentlichung des Dreiteilers als DVD im Jahre 2005 auf diese Liste zurückgegriffen.

Filmname Darsteller Tatsächliche Person

Michael Donegan

Horst Tappert

Bruce Richard Reynolds

Patrick Kinsey

Hans Cossy

Buster“ Edwards

Archibald Arrow

Günther Neutze

Gordon Goody

Geoffrey Black

Karl-Heinz Hess

John Thomas (Paddy) Daly

Thomas Webster

Hans Reiser

Charlie Wilson

Gerald Williams

Rolf Nagel

Robert Welch

Harold McIntosh

Wolfgang Weiser

Jim Hussey

George Slowfoot

Harry Engel

Roy John James

Andrew Elton

Wolfram Schaerf

Thomas Wisbey

Ronald Cameron

Günther Tabor

James Edward White

Walter Lloyd

Wolfried Lier

Roger Cordrey

Alfred Frost

Franz Mosthav

William (Bill) Boal

Arthur Finegan

Kurt Conradi

Ronald "Ronnie" Biggs

Smiler Jackson

Günther Meisner

(„Peter“, Eisenbahner im Ruhestand)

Twinky

Horst Beck

(„The Ulsterman“, unbek. Informant)

Peter Masterson

Paul Edwin Roth

Brian Field

Inge Masterson

Kai Fischer

Karin (Karen) Field

Jennifer Donegan

Grit Böttcher

Frances Reynolds

Eilene Black

Eleonore Schroth

Barbara Daly

Mona

Isa Miranda

Mary Manson (MacDonald)

Inspector Dennis MacLeoud

Siegfried Lowitz

Det. Superintendent Gerald McArthur

Sergeant Robbins

Lothar Grützner

Det. Sergeant Jack Pritchard

Sergeant Davies

Dirk Dautzenberg

Det. Sgt. Stanley Davies

Montague

Albert Hoerrmann

Det.-Superintendent Malcolm Fewtrell

Vorsitzender Richter

Alexander Golling

Chief Judge Edmund Davies

Was wissen wir heute noch über die Dreharbeiten?

Es gibt heute im wesentlichen zwei Quellen, nämlich die Autobiographie von Horst Tappert, in der er eingehend auf die Dreharbeiten eingeht, und ein Interview , dass ich 2013 telefonisch mit Regisseur Claus Peter Witt geführt habe. Aus Kostengründen, aber auch wegen fehlender oder eingeschränkter Drehgenehmigungen, wurde der Dreiteiler bis auf die Außenszenen in London und Glasgow nur in Deutschland gedreht. Auch der Überfall wurde auf der Bahnstrecke Northeim-Uslar in der Nähe des Ortes Moringen in meiner Heimat Südniedersachsen gedreht. Auf der deutschen Lokomotive und ihren Waggons hatte man "Royal Mail"-Aufkleber befestigt. Laut Zeitungsberichten behinderte Regenwetter die Dreharbeiten, die vor vielen Schaulustigen stattfanden. Horst Tappert schreibt hierzu:

"Auch den Zug überfielen wir in Deutschland. Mittlerweile stand nämlich fest, dass wir in England keine Drehgenehmigung für den Film erhalten würden... Wir holten uns die Millionen auf einer wenig befahrenen Bahnstrecke bei Göttingen... Später habe ich den Original-Tatort an der Bridego Bridge gesehen - und fühlte mich sofort wie zu Hause. Er glich unserem aufs Haar. Wer immer unseren deutschen Drehort ausbaldowert hat, nachträglich mein größtes Kompliment."

In England - Inkognito

Im September 1965 machte sich das Filmteam dennoch "inkognito" auf nach Großbritannien. Die Vorsicht von Regisseur Olden war begründet: Harry Engel, der als einziger bei der Passkonrolle als Grund der Einreise angegeben hatte, man wolle einen Film drehen, wurde daraufhin  stundenlang verhört, konnte sich aber am Ende herausreden. Wegen der örtlichen Vorschriften musste eine zweite, britische Filmcrew engagiert werden. Tappert:

"Eigentlich brauchten wir das Team nicht, wir konnten unser Programm allein bewältigen. Olden zog sich aus der Affäre, indem er die aufgezwungenen Kollegen die "Anschlüsse" drehen ließ, wie zum Beispiel Einstellungen ohne Schauspieler, die später nach Bedarf zwischen das andere Filmmaterial geschnitten werden sollten.. Beim Filmschnitt stellte sich später heraus, dass mit wenigen Ausnahmen nichts, was das zweite Team gedreht hatte, verwendet werden konnte. Lichteinfall, falsche Anschlüsse, falsche Richtungen."

John Olden, gebürtiger Österreicher mit britischer Staatsangehörigkeit, ließ sich nicht unterkriegen und drehte z.T. mutig auch ohne Genehmigung. So wurde der Überfall am Londoner Flughafen Heathrow direkt vor Ort gedreht, ohne die örtlichen Behörden einzuweihen. Heute unvorstellbar! Auch die Szene, als Tappert und Grit Böttcher sich konspirativ im Bus unterhalten, wurde direkt in einem normalen Linienbus gedreht. Schaffner und Fahrer hätten, so Tappert, keinen Einspruch erhoben.

"Bevor wir nach Hamburg zurückfuhren, um die Gentlemen zu beenden, feierten wir in Folkstone Abschied von England. Jeder wusste, dass wir etwas Gutes zustande gebracht hatten... Olden sah erschöpft aus an jenem Abend. Das Abenteuer England mit all den Unwägbarkeiten und der Verantwortung, die er sich aufgebürdet hatte, war nicht spurlos an ihm vorübergegangen."

Ein Schicksalsschlag und die Folgen

Wenige Tage nach der Rückkehr starb John Olden am 12. September 1965 in Hamburg an einem Herzinfarkt. Er wurde nur 46 Jahre alt. Olden war 1918 in Wien geboren worden, sein eigentlicher Familienname lautete Arzt. Vor dem zweiten Weltkrieg war er nach England emigriert und nach dem Krieg als Theateroffizier nach Deutschland gegangen. Olden hinterließ seine Ehefrau, die Schauspielerin Inge Meysel, mit der er seit 1956 verheiratet gewesen war. 

In dieser Situaton sprang der erst 33-jährige Claus Peter Witt ein, der gerade erst als freier Regisseur in Hamburg begonnen hatte. Witt ist einer der wenigen heute noch lebenden Beteiligten an den Dreharbeiten (Die anderen sind Kai Fischer, Grit Böttcher, Lothar Grützner und Rolf Nagel, sowie in einer kleinen Rolle, als Finder der Geldtasche, Hans-Peter Korff). Tappert schreibt über den Wechsel aus traurigem Anlass:

"Ein mutiger Entschluss, auf den Neuen wartete eine ungeheure Arbeit. Wir hatten nicht chronologisch gedreht, Witt musste sich jeden Anschluss ansehen, um herauszufinden, wo noch etwas nachzudrehen war. ..Olden hatte alle Schauspieler auf sich eingeschworen, mit der Zeit war jeder mit seinem Konzept der Gentlemen vertraut. Ganz in seinem Sinn konnnten wir Witt in den Film einarbeiten, und als guter Regisseur azeptierte er diese Hilfe sofort...Als "Die Gentlemen bitten zur Kasse" 1966 gesendet wurde, war an keiner Stelle ein Bruch oder eine Unstimmigkeit zu merken, der Film bestand aus einem Guss. Die "Goldene Kamera", die Witt gemeinsam mit John Olden verliehen wurde, hat er sich mehr als verdient."

Ein unfassbarer Verlust der anderen Art

Leider ist das Original-Filmmaterial nicht mehr vorhanden. Die ARD überspielte die Aufnahmen schon in den 70-er Jahren zunächst auf MAZ-Geräte, dann von dort in den 80-er Jahren auf Sony Betacam-Cassetten. Die Qualität ist sehr mäßig, die Aufnahmen grobkörnig. Der Film selbst wurde anscheinend vernichtet - ein ungeheurer Verlust, der zeigt, wie wenig Wertschätzung es damals für historisches Material gab.

Original trifft Double - Tappert und Reynolds

Als Bruce Reynolds 1968 von der Polizei nach langer Flucht gefasst wurde, schrieb ihm Tappert ins Gefängnis. Im Winter 1980 kam es dann auf Innitiative der TV-Zeitschrift "Hör Zu" zu einer Begegnung mit dem freigelassenen Reynolds in London und einer gemeinsamen Fahrt zur Bridego Bridge:

"Wir mochten uns auf Anhieb, und nach  ein paar Minuten wusste ich: Reynolds sieht nicht nur so aus, der ist auch so, wie du ihn gespielt hast....Auf der Straße vor dem Hotel erkannten mich einige deutsche Touristen: "Hallo Derrick!" Reynolds sah mich verwundert an. Was spielen Sie den jetzt? Ich murmelte verlegen: "Einen Oberinspektor der Mordkommission" - "Oh my God, sind Sie gesunken!".. Der Kerl war so nett - hätte er mir vorgeschlagen, bei einem Ding mitzumachen, ich hätt's mir überlegt."