Der Raub...

Wir befinden uns in England, 30 Meilen nordwestlich von London, in der Grafschaft Buckinghamshire. Genauer: am Haltesignal "Sears Crossing" nahe der Ortschaft Cheddington. In der Nacht vom 7. auf den 8. August 1963 geschieht hier gegen 3 Uhr in der Frühe Ungeheuerliches.

Ein Mann, sein Name ist Roger Cordrey, klettert auf die Galerie, die hoch über den Gleisen angebracht ist, und zieht einen alten Handschuh über die leuchtende grüne Lampe des Bahnsignals. Dann legt er Strom aus einer mitgebrachten Batterie an das rote Licht. Auf diese Weise ist das Signal auf Rot gestellt, ohne dass es im Stellwerk zu einer Warnmeldung der Anlage kommt. Etwa 1400 Meter weiter nördlich hat ein Komplize, John Daly, auf ähnliche Weise ein Vorsignal eingeschaltet, dass den Lokführer nun mit gelbem Licht auf das bevorstehende Haltekommando hinweist.

Gegen 3:05 kommt die Diesellokomotive des Postzuges direkt am Signal Sears Crossing zum Stehen. Doch dem Lokführer Jack Mills und seinem Heizer David Whitby kommt das ganze komisch vor. Whitbys gute Augen haben in der Ferne erkannt, dass die Lampen am nächsten Signal wieder grün leuchten. Er klettert aus der Lok, um vom Streckentelefon aus am nächsten Bahnhof in Cheddington anzurufen. Doch er kommt nicht bis zum Telefonkasten. Ein Mann im Overall winkt ihn zu sich, und als er sich ihm mit den Worten "Was ist denn los, Kollege?" nähert, zwingen ihn zwei weitere, maskierte Männer zu Boden. "Wenn Du schreist, bring ich Dich um!" zischt ihm einer der beiden zu. Whitby reagiert instinktiv: "OK, ich bin auf Eurer Seite" sagt er.

Währenddessen stürmt bereits ein halbes Dutzend Männer die Kabine der Lok, wo Lokführer Jack Mills heftig Widerstand leistet. Durch einen Schlag mit dem Knüppel fügt ihm einer der Posträuber eine heftige Platzwunde am Kopf und eine Gehirnerschütterung zu. Mills gibt auf.

Inzwischen haben zwei weitere Männer, Roy James und James Hussey, zwischen dem zweiten und dritten Waggon des Zuges die Kupplung gelöst. Nun nimmt ein pensionierter Lokführer, der von der Gang über Ronald Biggs eigens hierfür angeheuert wurde, Platz in Mill's Führerstand und versucht, die Lok in Bewegung zu setzen. Doch sie rührt sich nicht. "Ich kann kein Vakuum bekommen" sagt er immer wieder. Da packt einer der anderen erneut den halb ohnmächtigen Mills und schiebt ihn wieder auf den Fahrersitz. "Setz den Zug in Bewegung, oder wir verpassen Dir noch mehr." Mills gehorcht und langsam, ganz langsam setzt sich die Lok mit den beiden verbliebenen Waggons in Bewegung. Die Verbindungsleitungen zwischen dem zweiten und dritten Waggon reißen durch, der verkleinerte Zug verschwindet in der Nacht, ohne dass in den übrigen Waggons, wo über 50 Postangestellte Briefe sortieren, jemand Verdacht geschöpft hat.

Die Lok fährt 1.200 Meter weiter. Auf der Landstraße, die parallel zur Bahnlinie verläuft, folgt ihr ein Landrover. In ihm sitzt der Anführer der Bande, Bruce Reynolds, zusammen mit seinem Schwager John Daly. An der Bridego Brücke, wo die Bahnlinie die Landstraße überquert, befehlen die Räuber Mills, anzuhalten. Nun stürmen 8 Räuber den Waggon Nummer zwei, angeführt von Charlie Wilson. Mit Äxten und Spitzhacken bahnen sie sich ihren Weg und überwältigen die verängstigten Postbeamten, die sich auf den Boden legen müssen. Dann brechen die Räuber mit einer Axt das Schloss zum hinteren Teil des Waggons auf, wo über 120 Postsäcke liegen.

Einer der Räuber schneidet einen Sack zur Kontrolle auf und holt ein Bündel mit Banknoten heraus. Nun ist klar: Sie sind am Ziel. Die Männer formen eine Menschenkette bis zur Böschung der Bridego Brücke und schaffen in wenigen Minuten 108 der schweren Säcke aus dem Waggon. Unter der Brücke sammeln weitere Männer die Säcke auf und laden sie auf zwei bereitstehende Landrover und einen LKW. Mills und Whitby liegen zu dieser Zeit auf der Böschung und dürfen in Begleitung eines Räubers, Robert Welch, eine Zigarette rauchen. Welch bietet zur Entschädigung Geld an, was Mills ablehnt. Whitby kann unterdessen kurz die Fahrzeuge erkennen.

Schließlich werden Mills und Whitby zu den anderen in den Waggon gebracht. "Rührt Euch nicht für die nächsten 30 Minuten!" ruft ihnen einer der Posträuber zu, dann verschwindet die Bande in der Dunkelheit. Der ganze Überfall hat kaum 15 Minuten gedauert.

Ohne Licht fahren die Räuber den Weg bis zur Hauptstraße und schalten erst dann die Beleuchtung an ihren drei Fahrzeugen ein. Nun steht ihnen eine nervenaufreubende Fahrt von 45 Minuten bis zu ihrem Versteck bevor, der Leatherslade Farm in der Nähe von Oakley, rund 20 km nordöstlich von Oxford. Die ganze Zeit über ist das Radio auf Polizeifunk gestellt, doch es bleibt völlig stumm.

Unterdessen versuchen die Überfallenen, die Polizei zu verständigen. In Cheddington hat man längst verdacht geschöpft, doch die Telefonleitungen an der Bahn sind von den Posträubern vorsorglich gekappt worden, ebenso die Telefonleitungen zu den beiden einzigen Farmen in der Nähe. Roy James war hierfür wieselflink auf die Telefonmasten geklettert, so wie er es zuvor als Juwelendieb an den Fassaden der Hotels an der Riviera bewiesen hatte.  So dauert es bis lange nach 4 Uhr, bis die Polizei alarmiert werden kann.

Um 4:30 Uhr, genau in dem Moment, als die Fahrzeuge der Posträuber an der Leatherslade Farm ankommen, erwacht der Polizeifunk zum Leben. "Ihr werdet es nicht glauben, aber sie haben gerade einen Zug gestohlen!" sagt ein Offizier.